Künstliche Intelligenz soll Lieferketten vor Brexit retten
Autor: Marcus Schilling
Datum: 26.11.2018
Europaweite Vorbereitungen in Unternehmen
Beim britisch-schwedischen Pharmariesen Astra-Zeneca herrscht Unruhe. Der Medikamentenhersteller hat links und rechts des Ärmelkanals Lager errichtet, in denen haufenweise Medikamente gelagert werden. Diese sollen rund sechs Wochen vorreichen, falls kein nachschub geliefert wird.
Doch warum hortet das Unternehmen die Medikamente eigentlich? Der Grund liegt darin, dass Arzneimittel, die ausschließlich von britischen Einrichtungen kontrolliert werden, im Falle eines harten Brexits in Europa ihre Zulassung verlieren. Aktuell versucht das Unternehmen zwar auch in Schweden Qualitätskontrollen einzurichten, jedoch wird dies bis zum EU-Austrittstermin am 29.März 2019 kaum ausreichend möglich sein.
Diese Entscheidung hat Astra-Zeneca über komplizierte Algorithmen getroffen. Entwickelt wurden diese von Llamasoft, einem Lieferketten-Spezialisten aus Detroit. „Astra-Zeneca zählt zu unseren Kunden“, bestätigt Michael Wallraven, Deutschlandchef von Llamasoft, gegenüber dem Handelsblatt. Auch Unternehmen wie Konsumgüterriese Nestlé, Henkel, Nike, der Chemiekonzern BASF und die Möbelkette Ikea zählen zu den Kunden des Unternehmens.
Diese Informationen zeigen, dass sich auch andere große Unternehmen auf den harten Brexit vorbereiten. Besonders gut ist Llamasoft im Bereich Was-wäre-wenn-Szenarien, also in der Art: Was passiert, wenn wichtige Lieferanten wegfallen oder Transportwege nicht mehr nutzbar sind? Und welche Alternativen stehen zur Verfügung? Um diese Alternativen darzustellen erstellt Llamasoft eine digitale Wertschöpfungskette. Gibt es Änderungen im politischen Umfeld, berechnen Algorithmen Alternativlösungen und schlägt neue Lieferanten, Transportwege und Kunden vor.
Sollte es wirklich dazu kommen, dass Großbritannien sich vollständig vom europäischen Binnenmarkt abspaltet, kommt auf die Algorithmen viel Arbeit zu. Schließlich müsste dann neben den Zöllen auch der Wechselkurs zwischen Pfund und Euro beachtet werden, der sich stark verändern wird. Auch eine Just-in-time-Lieferung und die Einhaltung von Kühlketten wird zukünftig nicht mehr möglich sein.
Aktuelle Untersuchungen bestätigen, wie realistisch diese Szenarien tatsächlich sind. „Wir sehen zunehmend Hamsterkäufe – wie nach einer Sturmwarnung“, berichtet Ron van het Hof, Deutschlandchef des Kreditversicherers Euler Hermes, aus den Unternehmen. Damit Zölle und Störungen der Lieferkette vermieden werden können, kaufen immer mehr Hersteller ihre Importwaren auf Vorrat.
Und auch die deutschen Unternehmen bleiben von dem Thema nicht unberührt. „Unter unseren Kunden gibt es Firmen, die erste Weichen gestellt haben, um ihre Produktion von der Insel abzuziehen“, berichtet Llamasoft-Deutschlandchef Wallraven. Besonders die Automobilzulieferer sollen davon betroffen sein.
Airbus, BMW und Jaguar Land Rover haben ihre Investitionspläne über Bord geschmissen und das nicht ohne Grund. Aufgrund der politischen Diskussionen, die aktuell laufen, scheint ein „No Deal“-Szenario weitaus wahrscheinlicher. Immerhin liegt die Wahrscheinlichkeit bei rund 25 Prozent. „Das würde bedeuten“, heißt es in der Studie konkret, „dass die Regeln der World Trade Organisation (WTO) greifen und somit etwa vier bis fünf Prozent Zölle auf beiden Seiten anfallen.“
Und auch wenn es in letzter Minute noch zu einer Einigung kommen würde, wäre das für die meisten Unternehmen eine enorme Herausforderung. Euler Hermes geht davon aus, dass es zu 70 Prozent im Januar eine Einigung zu den Trennungsmodalitäten geben wird. „Für Unternehmen ist das wie ein Blind Date“, glaubt Ludovic Subran, Chefvolkswirt des Kreditversicherers, „denn sie wissen nicht, was auf sie zukommt.“
Dabei können auf die Unternehmen sowohl positive als auch negative Auswirkungen zukommen. Je nach Scheidungsvertrag kann die Verwerfung des Brexits ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Kommt es zu einem No Deal, könnte der Wechselkurs für ein Pfund Ende 2019 auf 0,88 Euro abfallen. Sollte es allerdings zu einer Last-Minute-Vereinbarung kommen, würde sich die Währung auf einen Wert von rund 1,14 Euro einpendeln.
Am schlimmsten wird der Brexit wohl Großbritannien mit einem Umsatzeinbruch von 30 Milliarden Euro treffen. Platz zwei belegen die deutschen Exporteure. Diese müssen mit einem Verlust von rund 8 Milliarden Euro rechnen. Den Niederländern entgehen rund vier Milliarden Euro.
Es ist also kein Wunder, dass immer mehr Unternehmen in die Services von Technologiefirmen wie Llamasoft investieren. So kümmert sich beispielsweise auch der Llamasoft Rivale JDA Software um die Lieferketten von deutschen Unternehmen wie Otto, dm oder Ernsting`s Family. Und auch andere kleiner Technologieanbieter mischen auf dem Markt mit und hoffen auf einen Zusatzumsatz.
„Diese Technologieanbieter sind absolut hilfreich“, lobt Lieferkettenexperte Michael Dittrich von Accenture die Algorithmus-Akrobaten. Auch Beratungsfirmen wie Miebach oder KPMG zahlen für die Hilfe durch Künstliche Intelligenz.
Llamasoft macht kein Geheimnis daraus, was sie zur Berechnung in ihre Computer eingeben. „Alle stellen sich auf einen harten Brexit ein“, verrät Dittrich. Wer aktuell noch mehrere Optionen offenhält, dem wird die Zeit davonlauf und eine rechtzeitige Rettung der Lieferkette wird so gut wie unmöglich sein.
Auch Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft sieht das so. Auch eine verlängerte Frist bis 2020 würde nichts an der Situation ändern. „Die Unternehmen müssen schon jetzt ihre Konsequenzen aus dem drohenden Brexit ziehen“, sagte der Wirtschaftsprofessor auf dem Kongress der Bundesvereinigung Logistik (BVL) in Berlin. „Bei dem hohen Risiko, das ihnen andernfalls droht, bleibt den Firmen nichts anderes übrig.“
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